Es ist ein Paradoxon: Man spricht das ganze Leben über in der subjektiven „ICH“-Form, und dennoch ist das sechsjährige Kind doch objektiv betrachtet eine ganz andere Person als der fünfzigjährige Erwachsene. Daß wir uns körperlich und geistig weiterentwickeln, wachsen und alt werden, daß sich unser geistiger Horizont im Idealfall unbegrenzt weiterentwickelt, all das erscheint uns völlig normal. Doch wie sieht es mit der Seele aus? Bleibt sie immer gleich? Altert sie? Und wenn ja, tut sie das parallel zum Körper oder in einem eigenen Rhythmus?
Nach analytisch-psychologischem Verständnis altert die Seele nicht im eigentlichen Sinne, denn da sie immateriell ist, kann auch kein physikalischer Verfallsprozeß stattfinden. Doch entwickelt sie sich: Eine Grundstruktur C. G. Jung formuliert hier die Typenlehre: Die vier grundsätzlichen – angeborenen – sogenannten Funktionstypen sind Denken – Empfinden – Fühlen – Intuieren., die als angeboren betrachtet wird, bleibt in aller Regel über das ganze Leben erhalten. Doch die Intensität sowie die Qualität der Wahrnehmungen, Eindrücke, Gedanken und Bedürfnisse veschieben sich. Manchmal abrupt, manchmal kaum wahrnehmbar. Betrachten wir unsere Erde: Der Mensch kann keine rotierende Bewegung wahrnehmen, und doch bewegt sich unser Planet fortwährend. Und auch, wenn der Jahresrhythmus immer der gleiche ist, gleicht kein einzelnes Jahr einem vorausgegangenen. So ähnlich können wir uns auch unsere seelische Struktur vorstellen. Und genauso, wie es fragwürdig erscheint, im neuen Jahr alles ganz genau so wie im vergangenen Jahr machen zu wollen, wäre es merkwürdig, der Seele Veränderungen absprechen zu wollen oder solche ignorieren zu wollen.
Doch welcher Natur sind diese Veränderungen, und laufen sie nach einem Muster ab?
Das Unbewußte ist prinzipiell das ganze Leben über aktiv. Doch während es in der ersten Lebenshälfte oftmals „im Hintergrund“ verbleibt, tritt es mit der sogenannten „Lebensmitte“, also mit etwa 42 JahrenEin abstrakter Wert, der nichts über das tatsächlich erreichte oder erreichbare Lebensalter aussagt. , immer stärker in den Vordergrund. Häufig äußert sich dieses Hervortreten im Erleben von Krisen, begleitet von Ratlosigkeit, Unverständnis und Enttäuschung. Die in diesem Lebensalter immer wieder anzutreffenden Krisen sind vordergründig dem äußeren, realen Leben zuzuordnen. Ein analytisch-psychologischer Blick offenbart hingegen, daß es sich dabei fast immer um Projektionsflächen der Anima (als Personifikation des Unbewußten des Mannes) handelt, die anhand dieser Ereignisse mit ihrem Träger „ins Gespräch“ kommen möchte.
C. G. Jung, als Begründer der Anima-Theorie, ging noch einen Schritt weiter und stellte die – offene! – Frage, inwieweit der irdische, körperliche Mensch „nur“ eine zeitweilige Heimat einer Seele darstellt, die selbst – da körperlos – auch unsterblich sein müßte. Die folgende Grafik soll diese Idee verdeutlichen:
Manchem mag dieser Ausflug in die TranszendenzÜberschreiten, damit ist allgemein der Übergang von der irdischen zur spirituellen Welt gemeint. beinahe esoterisch anmuten, doch eröffnet diese Sichtweise eine von Jung immer wieder geforderte Positionierung zu den „Dingen zwischen Himmel und Erde“, die einen entscheidenden Anteil der seelischen Struktur ausmacht.
Die Lebensmitte stellt in dieser Sichtweise den Übergang einer Aufwärts- in eine Abwärtsbewegung dar. Die vorschnelle Interpretation des „Abwärts“ als eine negative, unwillkommene Bewegung bedarf dabei natürlich der Korrektur. Ein kurzes Beispiel: Wer wollte – nach einem mühseligen Aufstieg mit dem Schlitten im Schlepptau – auf die darauffolgende Abfahrt verzichten?
Dementsprechend hat die sogenannte zweite Lebenshälfte viel mit der Hingabe zu tun, dem Ertrag der ersten Lebenshälfte. Doch handelt es sich dabei nicht um bloße Belohnungseffekte: Vielmehr fordert die Seele, genauer: die Anima, eine Bereitschaft zur Veränderung, eine Anpassung an neue, immaterielle Bedürfnisse.
Die Betrachtung dieser Gemengelage aus Alterungsprozessen, Widerstand und „Haltenwollen“, Erfahrungen von Verlust und Bedrohung, Krise und Neuanfang, ist ein Kernanliegen der Individuation und wird von mir als Therapeut aufmerksam begleitet. Mithilfe von Assoziationsarbeit, Trauminterpretationen und der lebenspraktischen Betrachtung äußerer Ereignisse vervollständigt sich der eigene Blick auf die Zeit und die damit verbundene Qualität. Da der Lebenslauf ein Kontinuum darstellt, lohnt sich der Blick auf die Lebensmitte auch schon vor ihrem Eintreten. Besonders bei Paaren mit Altersunterschied tauchen häufig Verständigungsprobleme auf, wenn ein Partner während der Beziehung die Lebensmitte überschreitet, während der andere erst auf sie zugeht.
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